Erinnerungskultur in Deutschland nach 1945
Blinder Fleck 1945
Das Kriegsende 1945 markierte für die Mehrzahl der damals lebenden Deutschen einen blinden Fleck in ihrer individuellen Erinnerungsgeschichte. Ursache hierfür war der plötzliche Wandel der Werte, der durch das Ende des Krieges die gesamte Gesellschaft durchzog. Wer noch kurz zuvor für den Endsieg gekämpft hatte, war mit der totalen Niederlage konfrontiert. Die deutsche Gesellschaft, die den Sieg der „Herrenrasse“ über alles gestellt hatte, verfiel mit der bedingungslosen Kapitulation und dem Abtreten Hitlers in eine Agonie, in der das Wahrnehmen des eigenen Zustandes sowie der kritischen Reflexion der Vergangenheit schwerfiel. Die faschistischen Identifikationssymbole, nun von dem übersteigerten mystifizierten Schein entledigt, verkörperten nur noch Schrecken und Schande. Die allerwenigsten nahmen diese Situation als Befreiung wahr. Den einzigen Ausweg bot deshalb bei der Bevölkerungsmehrheit der starre Blick nach vorn in eine noch nicht mit sicheren Bildern und Symbolen besetzte bessere Zukunft. Die Hoffnung darauf erkaufte man sich mit dem Vergessen und Verschweigen der eigenen Rolle im alten System. Die abgelehnte Schuld führte zu Scham und Schamabwehr und verursachte eine lähmende Leerstelle im politischen Gedächtnis der Nachkriegszeit.
Das Ende des Schweigens
Bis zum Ende der 40er Jahre entstand eine Mauer des Schweigens mit kollektiven Strategien kommunikativen Beschweigens. Die Trauer und Sorge galt den eigenen Toten, Kriegsgefangenen, Vermissten und Vertriebenen. Dieses selektive Gedenken versuchte die NS –Untaten zu relativieren. Die Restgesellschaft der ehemaligen Volksgemeinschaft beschäftigte sich in den 50iger Jahren nur noch mit sich selbst, in dem sie in ihrer Rolle an der jüngsten Vergangenheit, den Mord an den Juden und anderen Bevölkerungsgruppen ausblendete und sich vornehmlich als Opfer von Vertreibung und Bombenangriffen begriff. Diese Sicht ist anschaulich in den politischen Debatten und Medien dieser Zeit dokumentiert.
In den sechziger Jahren gab es mit zwei großen Ausstellungen ein erstes Bemühen, jüdische Vergangenheit ins Bewusstsein zurück zu rufen. Diese waren „Synagoga“ in Frankfurt (1960/61) und „Monumenta Judaica – 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein“ in Köln (1963/64). Wichtiger noch waren der Prozess gegen Adolph Eichmann 1961 in Jerusalem und die drei Auschwitzprozesse von 1963-69 für eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Vorangetrieben durch die Opferverbände, doch erst befördert durch den beginnenden Generationswechsel, die kulturelle Revolution der 68er-Bewegung und die damit verbundenen öffentlichen Kontroversen begann in der Folgezeit in der Bundesrepublik der Aufbau musealer Einrichtungen in den ehemaligen Konzentrationslagern. Dieser Umbau der Täterorte in Gedenkstätten wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit kontrovers aufgenommen und konnte oft nur gegen erhebliche Widerstände der lokalen Behörden und Anwohner durchgesetzt werden. Der Versuch einer kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit wurde noch bis in die achtziger Jahre weitgehend durch eine Mauer des Schweigens behindert. Erst 1979, mit dem Ausstrahlen der vierteiligen US-Spielfilmserie „Holocaust“ kehrte die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden zurück in die öffentliche gesellschaftliche Debatte. Es erfolgte eine unerwartet ausführliche Beschäftigung mit dem Völkermord an den europäischen Juden, bei dem fast alle Teile der deutschen Bevölkerung involviert waren. Die Resonanz der Serie begründete auch den Begriff des „Holocaust“ für diesen Genozid, für den es davor nur undeutliche Umschreibungen gegeben hatte.
Generationen und ihre Lasten - individ. und soziales Gedächtnis
Die fehlenden Antworten für das „Warum und Wie war es möglich?“ führten in den 60iger Jahren zu einem Bedürfnis vor allem der nachgeborenen Generation, die nicht verarbeitete Schuld der Eltern zu hinterfragen. Der Widerspruch zwischen den noch großteils vorhandenen alten postnazistischen Werte im Elternhaus, Schule und Universität und neuen, progressiven Idealen und Bewegungen bildete den Kern des „Generationenkonfliktes“.
Der Kampf um das physische Überleben und die Traumata, den der Naziterror bei den in der Bundesrepublik gebliebenen überlebenden Juden und anderer Opfer hinterlassen hatte, bewirkte auch hier eine Schonfrist des Schweigens. Diejenigen, die sich schon früh mitteilen mussten, um weiterleben zu können, wurden nicht gehört, weil auch für die nächsten Angehörigen die Last der Vergangenheit zu groß war. Es war eine doppelte Mauer des Schweigens, die eigene und die im Gegenüber. Erst in den 80iger Jahren entstand durch den zeitlichen Druck der verschwindenden Zeitzeugen der Generation der Überlebenden der Zwang, die Erinnerungen mitzuteilen und das Unsagbare und Unfassbare vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. So kam es zur Sammlung von Tonbandaufnahmen und Publikationen, die in verschiedenen Archiven weltweit Einlass fanden und damit ein kollektives Gedächtnis begründeten. Seit den 1990ern entstanden Jüdische Museen, Dokumentationszentren, Gedenkorte wie das Holocaustmahnmal in Berlin. Auch der „vergessenen“ Opfern wie z. B. der durch „Euthanasie“ Ermordeten, den Roma und Sinti oder den Homosexuellen wird seit den 80iger Jahren stärker gedacht. Die Form des Erinnerns durch biographische Ausstellungen und Lebensgeschichten gibt den Verfolgten und Ermordeten Individualität und Würde, ihr menschliches Antlitz.
Asymmetrien der Erinnerung
Während die Erinnerung an die Opfer des Holocaust fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist, gibt es nach wie vor kaum Erinnerungen aus der Perspektive der Täter an sich und Ihresgleichen. Auf der Seite der unmittelbaren Täter blieb, bis zu deren Ableben, das Schweigen und der Versuch der Erleichterung im Vergessen. Ihre Erinnerungskonstruktion ist von Scham und Schamabwehr geprägt. Die Täter des Holocaust nahmen ihre Erinnerungen mit ins Grab. Damit übertrugen sie die Last ihrer unverarbeiteten Schuld auf ihre Nachfahren. Die Auseinandersetzung mit der Schuld, die in den siebziger und achtziger Jahren noch durch Konfrontation und Abwehr ausgelagert wurde, wird von der nachfolgenden zweiten und dritten Generation wiederentdeckt. Diese geht offensiver mit der Beteiligung ihrer Vorfahren am Holocaust als Teil ihrer Familiengeschichte um und sieht sich in besonderer Verantwortung für eine Aufarbeitung, damit Ähnliches sich nicht wiederhole.
Vergangenheit, die nicht vergeht
Aleida Assman verwendet den Begriff der „postheroischen Erinnerung“ die eine ethische Wende in der Erinnerung bedeutet habe. Mit der Holocausterinnerung sei eine neue Phase der Wertschätzung der Opfer eingeleitet worden, die einen neuen Zugang zur Gewaltdimension der Geschichte eröffnet und schließlich in eine Konkurrenz um die Opferrolle gemündet habe. „Der Begriff postheroisch kann aber auch für eine Entmoralisierung des Erinnerungsdiskurses stehen. Das universale Bild für diesen Bann einer Vergangenheit, ‚die nicht vergeht’, ist der Schatten. Wenn wir fragen, wie lange dieser Schatten wohl noch anhält, finden wir darauf eine Antwort bei Friedrich Nietzsche: Was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“. Dieser Satz gelte besonders für die Opfer, und sei das Maß der Erinnerung. Was die Opfer nicht vergessen könnten, das dürften auch die Nachkommen der Täter nicht vergessen.
(vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, Beck 2006 Lizenz Bundeszentrale für Politische Bildung 2007 S.: 277-79)
LL i t e r a t u r q u e l l e n